Weltgewimmel
- 25.11.2023
St. Martin-Kirche, Nortorf - 26.11.2023
Paulus-Kirche, HH-Heimfeld
Kim André Arnesen (*1980) | Even when He is silent
Gregorio Allegri (1582-1652) | Miserere mei, Deus
Frank Martin (1890-1974) | Messe für zwei vierstimmige
Chöre a capella
Wolfram Buchenberg (*1962) | Als vil in gote, als vil in vride
Gustav Mahler (1860-1911) | Ich bin der Welt abhanden gekommen
Weltenlauf. Wimmelbilder. Weltgewimmel.
Wir stürzen uns hektisch in Achtsamkeitsübungen und nehmen danach noch weniger wahr um uns herum. Wir machen jeden Trend mit und haben Angst, aus der Zeit zu fallen. Das Jugendwort des Jahres, gerade gekürt, ist schon wieder out. Der Zahn der Zeit nagt, atemlos jagt man den Moden und Memes hinterher. Moment mal, sind das nicht nur Floskeln? War das alles nicht schon immer so? Seien wir ehrlich: Sätze wie „Die Erde dreht sich immer schneller“ existieren doch, seit es Großeltern gibt, seit früher alles besser war. Und eine wirksame Antwort auf das manchmal so stressige bis unerträgliche Weltgewimmel gibt es ebenfalls schon seit Menschengedenken: Rückzug. Auf das Sofa. In die Stammkneipe. In die Kirche. In das Komponierhäuschen.
Zeitloser Zeitgeist
In unserem Konzert „Weltgewimmel“ singen wir Werke, in denen das irdische Treiben von außen betrachtet wird. In denen der Rückzug von all dem besungen wird. „In der Stille und in der Ruhe, dort spricht Gott in die Seele“, predigte schon Meister Eckhart. Diesen Satz und weitere ausgewählte Texte des mittelalterlichen Mystikers vertonte Wolfram Buchenberg 2001 in „Als vil in gote, als vil in vride“ (er tat dies übrigens tatsächlich in einem „Komponierhäusl“, nämlich in jenem der Bayerischen Musikakademie Marktoberdorf). Ein zeitgenössischer Komponist bringt Worte zum Klingen, die mehr als ein halbes Jahrtausend alt sind: Dies ist die größte zeitliche Klammer in unserem Konzert, und sie zeigt, dass das Weltgewimmel gleichermaßen vom Zeitgeist wie von Zeitlosigkeit geprägt ist.
Der Welt abhanden kommen
Doch was, wenn Gott nicht in die Seele spricht? Wenn die Stille und Ruhe schier unerträglich wird, wenn man einfach nur raus in die weite Welt möchte? Während des Zweiten Weltkriegs schrieb in Köln ein Jude, der sich vor den Nazis versteckte, an eine Kellerwand ein kurzes Glaubensbekenntnis, das mit den Worten endet: „Ich glaube an Gott, auch wenn er schweigt“. Dieses Bekenntnis vertonte Kim André Arnesen: „Even When He Is Silent“, Musik voller Zartheit, voller Hoffnung und Lebensmut, ja, voller Schönheit. Genau so könnte man auch das Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ beschreiben, das Gustav Mahler auf ein Gedicht von Friedrich Rückert geschrieben hat (1901 in seinem Komponierhäuschen am Wörthersee): „Ich bin gestorben dem Weltgewimmel und ruh’ in einem stillen Gebet“. Doch im Gegensatz zu den Zeilen jenes Menschen, der in Köln um sein Leben fürchten musste, ist hier das lyrische Ich, das in den drei Strophen viermal das Wort „gestorben“ in den Mund nimmt, mit sich und der Welt, von der er sich abgewendet hat, vollends im Reinen. Dass Clytus Gottwald diese Hymne an die Einsamkeit für sechzehn Stimmen bearbeitet hat: eine Ironie voll ätherischen Wohlklangs.
Eine Angelegenheit zwischen Gott und mir
Wie schon in unserem letztjährigen Herbstkonzert steht auch diesmal eine doppelchörige Messe im Zentrum. Vier Jahre lang, von 1922 bis 1926, hat Frank Martin dieses Werk mehr niedergerungen als niedergeschrieben. In dieser Zeit zog Martin von Genf nach Paris und wieder zurück, erlebte die Geburt seines ersten Sohnes und trennte sich von seiner Frau. Ob die Arbeit an der Messe für ihn einen Rückzug aus seinem zu dieser Zeit recht unsteten Leben bedeutete, lässt sich nur mutmaßen. Auf jeden Fall aber war sie „eine Angelegenheit zwischen Gott und mir“, wie Martin später niederschrieb. Dazu passt, dass das Stück vier Jahrzehnte in der Schublade ruhte, ehe es der Komponist auf Bitten von Franz W. Brunner, dem Kantors der Bugenhagen-Kantorei Hamburg, aus selbiger wieder herausholte. Vor sechzig Jahren, im November 1963, kam die Messe dann endlich zu ihrer Uraufführung und gehört seither zum Kernrepertoire zeitgenössischer a cappella-Musik.
Von Legenden umrankt
Noch länger unter Verschluss gehalten wurde das älteste Stück, das wir singen: Gregorio Allegris „Miserere mei, Deus“. Die Vertonung des 51. Psalms, in Auftrag gegeben von Papst Urban VIII. und 1638 entstanden, durfte nur in der päpstlichen Kapelle erklingen. Eine Abschrift und Weitergabe der Noten war unter Androhung der Exkommunikation untersagt. So entstand auch die Mär, der 14-jährige Mozart habe das zweichörige, insgesamt neunstimmige und kompositorisch hoch diffizile Werk nach einmaligem Hören heimlich niedergeschrieben. Wie es aber bei geheimen Dokumenten so ist, war der Bußpsalm wohl schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts bekannt und in Umlauf – was der zeitlosen Schönheit und Entrücktheit dieses Geniestreichs keinen Abbruch tut.